Der folgenreichste Stolperstein für Fußballtalente

Das Kardinalproblem des deutschen Fußballs heißt „Wachstumsvorsprung“.

Reflexionen eines Vaters zu den Chancen und Nachteilen seines Fußball spielenden Sohns.

Das Talentförderungssystem des Deutschen Fußball-Bundes „DFB 2000“ hat sich in den vergangenen 15 Jahren bewährt. Es ist sogar unbestritten eine Erfolgsgeschichte. DFB 2000 lässt von so genannten regionalen Sichtern vor Ort in den Vereinen junge Talente aufspüren und fördert sie dann mit individuellen Zusatztrainings. Der Anspruch war und ist, auf diese Weise auch wirklich jeden begabten Fußballspieler zu finden. Tatsächlich sind bis auf Miroslav Klose und Roman Weidenfeller alle Weltmeister von 2014 über dieses System gefunden worden und haben es mit Erfolg durchlaufen.

Dennoch beschleicht mich als Vater das ungute Gefühl, dass das wohlgeformte und weit gespannte DFB-System (sechsstufige Fußball-Ligasystem mit über 2000 Ligen bis zu 13 Ebenen) mehr als die Hälfte seiner Talente verliert, weil Jugendliche, die körperlich weniger entwickelt sind, also Wachstumsnachteile haben, einfach durchs Raster fallen. Die gute Nachricht vorweg: Die Lösung ergibt sich aus der Schwäche des Systems selbst.

Fußballprofis gedeihen im Frühjahr

Statistiken zeigen: In den U-Nationalmannschaften und der Junioren-Bundesliga haben im Frühjahr geborene Spieler die deutliche Mehrheit. Die Erklärung ist einfach: Teams werden nach Jahrgängen gebildet und ein Jahrgang entspricht dem Kalenderjahr. Der Stichtag des DFB für einen Jahrgang ist stets der 1. Januar. Bei der Auswahl für die Teams haben früh im Jahr geborene Spieler gegenüber den später Geborenen also einen Wachstums- und Entwicklungsvorsprung. Letztendlich ist der am 1. Januar eines Jahres Geborene ein Jahr älter als der am 31. Dezember des gleichen Jahres Geborene und damit auch weiterentwickelt. Die früh im Jahr Geborenen sind also in den Teams körperlich im Vorteil und gelangen leichter in das Fördersystem des DFB. Verlierer sind vor allem die, die in der zweiten Jahreshälfte geboren und noch nicht so weit entwickelt sind. Das nennt die Wissenschaft den relativen Alterseffekt (RAE).

Hinzu kommt die Pubertät: Setzt die Pubertät bei einem Jugendlichen spät ein, hinkt auch die körperliche und damit fußballerische Entwicklung vielfach mehr als drei bis vier Jahre hinterher. Ein Rückstand, der kaum mehr aufzuholen ist. Im Grunde ist damit die Karriere für viele talentierte Spieler bereits beendet, bevor sie eigentlich begonnen hat.

Der DFB hat das Problem des Stichtags und des damit einhergehenden relativen Alterseffekts zwar erkannt, aber geeignete Lösungen liegen bis heute nicht vor. Ein schwacher Trost für Spätentwickler: Auch wenn der Erfolg ausbleibt, fehlt in dieser Phase nicht unbedingt das Talent.

Randnotizen am Spielrand

Man hat sich leider schon zu sehr an dieses Bild auf dem Fußballplatz gewöhnt: Da spielen in den Jahrgangsteams der C-Jugend Halberwachsene mit Bartansatz und einer stattlichen Körpergröße von über 1,80 Meter mit bzw. gegen 1,40 Meter kleine Mitspieler, deren Pubertät noch nicht einmal richtig begonnen hat. Während die einen noch ein sehr kindliches Verhalten aufzeigen, befinden sich die anderen bereits auf dem Sprung zum Erwachsenen; die einen wollen einfach nur mit den Freunden spielen, die anderen wollen wie Profils behandelt werden und sammeln eifrig Fußballpunkte in den Hin- und Rückspielen.

Augenscheinlich ist, dass ein solch ungleicher Zweikampf nicht unbedingt hilft, die Entfaltung aller Spieler eines Jahrgangs zu stärken. Folglich passiert das, was passieren muss: Körperlich noch weniger entwickelte Kinder sind frustriert und wenden sich vom Fußball ab. Stereotypische „Friss oder stirb“-Antworten à la „Da musst du dich durchsetzen!“ helfen nicht weiter.

Vielmehr sollten wir den Übergang vom Kinder- zum Jugend- und dann zum Erwachsenfußball kind- und jugendgemäß ausgestalten, sodass die Freude am Fußball nicht verloren geht.

Paradigmenwechsel in der Förderung nötig

Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem junge Spieler als Talent in unserer Gesellschaft wahrgenommen werden. Nach der simplen Formel: „Je jünger der Spieler desto talentierter ist er.“ So ist es kein Wunder, dass die Jagd nach Talenten bereits schon unter den 12-Jährigen (Jeremy Boga, Take Kubo) einsetzt. Gleichzeitig laufen wir Gefahr, zunehmend den Blick für eine systematische und kontinuierliche Förderung von älteren Jugendlichen bis hin zum jungen Erwachsenen zu verlieren.

Problematisch in diesem Zusammenhang ist, dass die eigentliche Frage, bis zu welcher Entwicklungsphase eines Fußballers die Förderung möglich ist, vom DFB und den Verbänden nur unzureichend beantwortet wird.

Aussagen wie „Er ist schon sechzehn, damit zu alt, da ist der Zug schon abgefahren“ werden vorschnell selbst von wohlwollenden (so genannten) Experten getroffen. Bitter ist, wenn die heranwachsenden Jugendlichen die „herrschende Meinung“ dann als Wahrheit übernehmen und ihre fußballerischen Fähigkeiten entsprechend herabwürdigen. Mit dieser Form der selbsterfüllenden Prophezeiung zementieren wir das gegenwärtige System und verlieren weiterhin stetig Talente.

Eine Bankrotterklärung: Diskriminierende DFB-Strukturen

Der deutsche Jugendfußball weist im Punkt Gleichbehandlung klare Mängel auf. Physisch spät entwickelte Jugendliche sind die eigentlichen Verlierer in diesem DFB-System. Die Begünstigung früh geborener und körperlich stärker entwickelter Spieler im deutschen Fußball ist nicht nur ungerecht, sondern zugleich diskriminierend. Ein System, das den relativen Alterseffekt – etwa durch eine andere beispielsweise roulierende Stichtagsregelung – nicht ausgleicht und die Förderung besser streut, ist eine Bankrotterklärung der Talentförderung. Von einer allgemeinen Gleichbehandlung kann keine Rede sein; sie lädt direkt zur Klage ein.

Lösungsweg suchen

Eine verlässliche Einschätzung über das Talent eines Fußballspielers ist vor seinem 15. Lebensjahr kaum zu treffen, also auch keine Prognose, ob aus dem Talent ein Fußballprofi werden könnte. Wir sollten daher vielmehr Geduld mit den jungen Menschen aufbringen, da die sportliche Entwicklung selbst nach dem 20. Lebensjahr noch nicht abgeschlossen ist.

Nicht nur der Übergang vom Amateur zum Profi muss fließender und vielschichtiger werden (Zweiten Weg). Anhand der aufgezeigten Punkte wäre es sicherlich hilfreich, gerade im Jugendalter das DFB-Netz noch feinmaschiger zu machen. Gerade in der Jungend sollten wir uns bemühen, so viel Jugendliche wie möglich mit speziellen Förderprogrammen zu binden. Warum sollten wir nicht eine Art „Auszeit“-Liga (freies Jahr) für physisch schwächere Jugendliche einrichten? Diese könnten das reine Fußallspielen verstärkt mit der Mannschaft ohne Liga-Punkte erproben. Es wäre ein „Schonraum“-Angebot, über das die Kinder und Jugendlichen für eine kurze Zeit ihre Spielfreude und ihre Leidenschaft für den Fußball sorgenfrei ausleben können.

Wünschenswert wäre es, wenn sich der DFB in Zukunft gegen den Trend, Jüngst-Spieler einzukaufen, stemmen und sich intensiver allen Entwicklungsphasen widmen würde. Das Prinzip aus „Breite wird Spitze“ gewährleistet zudem, dass Jugendliche sich individuell in dem vertrauten Umfeld der Familie „normal“ entwickeln können. Auch die angesprochene Neudefinition der Stichtagsregelung könnte hilfreich sein.

So ließe sich das Ziel erreichen, ein gerechteres Förderprogramm aufzubauen, das bis zum Erwachsenenalter reicht und hierbei den jeweiligen Entwicklungsphasen und den Bedürfnissen junger Menschen gerecht wird. Und es würde mehr Talente entdecken, weil die „Spätentwickler“ nicht mehr durchs Raster fallen.

 

Quelle:

Die Zukunft des Fußballs – Woher die nächsten Weltmeister kommen – Recherchen im System Jugendfußball, KJM Buchverlag, April 2016, Ralf Lorenzen von Jörg Marwedel, ISBN 978-3-945465-16-5

Stützpunktkoordinatoren diskutieren über „Relativen Alterseffekt“, Deutscher Fußball Bund, 08.12.2015, http://www.dfb.de/news/detail/stuetzpunktkoordinatoren-diskutieren-ueber-relativen-alterseffekt-136358/

Fußballprofis zeugt man im April, Oliver Fritsch und Sascha Venohr, Zeit Online, 15. Juli 2015, http://www.zeit.de/sport/2015-07/relativer-alterseffekt-dezemberkinder-dfb-jugendfussball

Nachwuchskicker: Warum der DFB Herbstkinder diskriminiert, Volker Mrasek, Spiegel, 29.06.2008, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/nachwuchskicker-warum-der-dfb-herbstkinder-diskriminiert-a-562482.html