Trends in der MS-Forschung: Antigen-spezifische Immuntherapien – personalisierte Medizin bleibt wichtiges Ziel

Mehr als 500.000 Menschen in Europa leiden an Multipler Sklerose. Neue Behandlungsansätze wie eine Antigen-spezifische Immunisierung sind unter den aktuellen Themen aus der MS-Forschung, die auf dem Europäischen Neurologiekongress in Berlin diskutiert werden. Experten thematisierten die Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen, die einen noch präziseren und stärker zielgerichteten Einsatz der verfügbaren Medikamente ermöglichen.

Berlin, 22. Juni 2015 – „Der erste Kongress der European Academy of Neurology in Berlin ist eine hervorragende Gelegenheit für MS-Spezialisten aus aller Welt, aktuelle Anliegen und Ergebnisse der intensiven Forschung in unserem Fachgebiet auszutauschen. Die vielen hochkarätigen wissenschaftlichen Sitzungen und Präsentationen sind auch Beleg für die erstaunlichen Fortschritte, die wir in der MS-Forschung derzeit erleben, mit einem immer breiteren Spektrum an therapeutischen Optionen“, sagte Prof. Xavier Montalban, Vall d’Hebron Krankenhaus Barcelona, Präsident des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS). „Zu den wichtigen aktuellen Entwicklungen in unserem Gebiet gehören die ständige Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten, die Bemühungen um eine maßgeschneiderte, individualisierte Behandlung und neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Antigen-spezifischen Immunisierung.“

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, die sich durch einen hohen Grad an Heterogenität auszeichnet. Rund eine halbe Million Menschen in Europa sind von der degenerativen, fortschreitenden Autoimmunerkrankung betroffen, Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer. MS wird meist zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr diagnostiziert und gehört, gemeinsam mit der Epilepsie, zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen bei jungen Erwachsenen, und ist die häufigste Ursachen für fortschreitende Behinderung in dieser Altersgruppe. MS verursacht für die europäischen Gesundheits- und Sozialsysteme Kosten von rund 15 Milliarden Euro im Jahr.

Den Entstehungsmechanismus entschlüsseln

Unter den Themen, die MS-Forscher in aller Welt nach wie vor beschäftigen, ist ein noch besseres Verständnis für die Mechanismen, die Krankheitsentstehung und -verlauf bestimmen. „Die zugrunde liegenen Pathomechanismen zu entschlüsseln, den exakten Zusammenhänge zu verstehen, die bei der schubförmig-remittierenden MS zu den Gewebeschädigungen führen, und die Rolle im Detail zu klären, die diese Prozesse bei der Entstehung irreversibler Schäden im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium spielen, gehört zu den zentralen Zielen der aktuellen MS-Forschung“, so Prof. Montalban. Die Antwort auf diese Fragen könnte den Weg für neue Behandlungsstrategien ebnen, mit denen sich im Gegensatz zu heute das Fortschreiten der Krankheit aufhalten oder sogar eine Wiederherstellung erreichen lässt.

Dringender Bedarf an personalisierter Therapie

„Wir verfügen heute über eine beeindruckende Vielfalt an Behandlungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Wirkmechanismen, die Optionen haben sich hier rasch weiterentwickelt. Wir können also Betroffenen immer besser und immer rascher helfen“, so Prof. Montalban. Die therapeutische Breite spiegelt sich auch im Programm des EAN-Kongresses wider: Eine Vielzahl von Studienergebnissen zu injizierbaren Medikamenten, zu den neuen oralen Substanzen, zu den verschiedenen monoklonalen Antikörpern und zu möglichen künftigen Therapien wie neuroprotektiven Medikamenten oder Substanzen, die im Krankheitsverlauf geschädigte Myelinscheiden wieder herstellen können.

Die immer größere Therapiepalette wirft Fragen hinsichtlich der exakten Positionierung jeder Substanz und von Therapieschemata auf, könnte aber auch den Weg zur personalisierten MS-Therapie vereinfachen, so Prof. Montalban: „Für eine tatsächlich personalisierte Medizin, die diesen Namen verdient, besteht in der MS Therapie heute in großer nicht ausreichend erfüllter Bedarf. Die Prognose eines individuellen Patienten zu verstehen, das für diese Person am besten geeignete Medikament auszuwählen, die Wirkung und unerwünschten Wirkungen einer Substanz im konkreten Fall vorherzusagen – all das ist nicht einfach. Aber es gibt immer mehr Evidenz, unter anderem zu Biomarkern, die uns dabei unterstützt.“

Auf dem Weg zur Immunisierung

“Die Rolle der Antigen-spezifischen Toleranz des Immunsystems und die Hoffnung, dass Antigen-spezifische Therapien die unerwünschten, durch pathologische Antikörper und T-Zellen verursachten, Immunantworten unterdrücken, ohne aber die normale Immunfunktion zu beeinträchtigen, die wir zur Abwehrt von Infektionen und Krebszellen brauchen: Das gehört zu den besonders innovativen und spannenden neuen Ansätzen in der MS-Therapie, die auf dem EAN-Kongress diskutiert werden“, so Prof. Montalban. „Wir haben bisher noch keine überzeugende Evidenz dafür, dass bei der Multiplen Sklerose ein spezielles Antigen oder eine Gruppe von Antigenen dominant für die Immunantwort verantwortlich ist. Aber eine stärker Antigen-bestimmte Erkrankung wie die Neuromyelitis scheint sich als ein sehr viel versprechendes Modell für dieses Therapiekonzept zu erweisen.“

Auf großes Interesse unter MS-Experten stieß die Präsentation von Ergebnissen der ETIMS Studie auf dem EAN Congress. „Kurz gesagt geht es bei diesem Ansatz darum, körpereigene Blutzellen mit sieben unterschiedlichen Myelin-Peptiden zu verbinden, um dadurch eine Antigen-spezifische Toleranz zu erzielen. Das wurde in einer monozentrischen Phase-I-Studie untersucht“, fasste Prof. Montalban zusammen. „Die Machbarkeit, Verträglichkeit und Sicherheit dieses neuen therapeutischen Ansatzes konnten damit gezeigt werden. Jetzt ist eine multizentrische Phase-IIa-Studie in Vorbereitung.“ Eine anderer Ansatz ist es in diesem Zusammenhang, spezifische Myelin-Peptide über ein Pflaster zu verabreichen, wie Prof. Montalban berichtete: „Eine beeindruckende Studie, die ein polnisches Forscherteam aus Lodz durchgeführt und auf dem EAN-Kongress präsentiert hat, zeigt das immun-regulierende Potenzial einer transdermalen Immunisierung von MS-Patienten mit MS-Peptiden. In einer Phase-I-Doppelblinstudie mit 30 Patienten, die an schubförmig-remittierender MS litten, wurden eine deutliche Reduktion der Krankheitsaktivität gemessen. Das eröffnet den Weg zu neuen Verabreichungsformen von Peptide, immer auf der Basis eines Immunisierungskonzeptes.“

Vitamine und antiepileptische Substanzen auf neuroprotektive Wirkung getestet

Ein hochdosiertes Vitamin und eine Substanz, die aus der Epilepsie-Therapie bekannt ist, könnten das Potenzial für einen neuen Therapieansatz bei MS haben, wie zwei auf dem EAN-Kongress präsentierte Studien zeigen. „Eine Studie mit hochdosiertem Biotin und eine andere mit Phenytoin zeigen ausreichend Hinweise für eine mögliche neuroprotektive Wirkung dieser Substanzen, dass dem in weiteren Studien nachgegangen werden sollte“, kommentierte Prof. Montalban erste Ergebnisse in diesem Bereich.

Risiken und Nutzen bewerten

Prof. Montalban: „Wir diskutieren auf diesem Kongress auch viele Daten aus Studien, die nach der Zulassung der jeweiligen Substanzen durchgeführt wurden und daher andere Aspekte und Patienten beleuchten als die Zulassungsstudien. Diese Informationen sind zentral, um eine bessere Nutzen-Risiko-Einschätzung treffen zu können.“ Unter den zahlreichen Daten dieser Kategorie, die auf dem EAN-Kongress präsentiert wurden, gibt es eine aktuelle Studie zu MRI-Ergebnissen von Patienten, die von Interferon beta-1a auf den monoklonalen Antikörper Alemtuzumab umgestellt wurden. Sie zeigt, dass sich bei Patienten, die zuvor mehr als zwei Jahre unter krankheitsmodifizierender Behandlung waren, die MRI-Befunde verbessern.

Sources: BrainFacts.org, Brain Disease in Europe, November 2013; EAN Abstracts: Steinmann, Antigen-induced tolerance: Highly selective intervention in MS treatment; Barkof et al, Alemtuzumab Decreases New Lesion Formation and Slows the Rate of Brain Athrophy in Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis Patients Previosusly Treated With Subcutaneous Interferon Beta-1a; Martin, Antigen-specific Tolerance in MS with Myelin Peptide Coupled Cells; Selmaj, MS-treatment with myelin skin patches; Raftopoulos et al, Neuroprotection with phenytoin in acute optic neuritis: Results if a phase II randomised controlled trial; Tourbah et al, Effect of MD 1003 (high doses of biotin) in progressive multiple sclerosis: results of a pivotal phase III randomized double blind placebo controlled study

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