Neurostimulation bei Epilepsie: Neue Techniken, neue Hoffnung

Mehr als 2,6 Millionen Menschen in Europa leben mit Epilepsie. Trotz aller Fortschritte bei Medikamenten und neurochirurgischen Eingriffen kann mit diesen Methoden einem nicht unerheblichen Anteil der Betroffenen nicht geholfen werden. Hier setzen Experten berechtigte Hoffnung auf innovative Neurostimulations-Verfahren, hieß es auf dem Europäischne Neurologiekongress in Berlin.

Berlin, 22. Juni 2015 – „Trotz der Einführung neuer medikamentöser Therapien und ungeachtet der Erfolgsquote neurochirurgischer Verfahren ist eine beträchtliche Zahl von Epilepsie-Patienten nicht anfallsfrei oder leidet unter beträchtlichen Nebenwirkungen. Das ist Grund genug, neue therapeutische Ansätze zu erforschen und zu entwickeln, wobei Neuromodulations-Verfahren auf besonderes Interesse stoßen“, betonte Prof. Paul Boon, Universitätkrankenhaus Gent (Belgien), Vorsitzender des Kongress-Programmkomitees, auf dem 1. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Berlin. Mehr als 6.500 Experten aus aller Welt diskutieren hier vom 20. bis 23. Juni 2015 die neuesten Entwicklungen auf ihrem Fachgebiet. „Fortschritte gibt es aktuell bei verschiedenen minimal- und nicht-invasiven Neurostimulationsverfahren, der tiefen Hirnstimulation oder den Closed-Loop-Verfahren“, so Prof. Boon.

Rund 2,6 Millionen Menschen in der EU und etwa 50 Millionen weltweit sind von Epilepsie betroffen, einer chronischen neurologischen Erkrankung, die durch wiederkehrende, nicht provozierte Anfälle gekennzeichnet ist. Die Anfälle sind eine Folge von übermäßigen elektrischen Entladungen im Gehirn. Die Art der Symptome und der Anfälle hängt davon ab, in welchem Gehirnareal die elektrische Aktivität stattfindet und was ihre Ursache ist. Auch Faktoren wie das Alter oder der generelle Gesundheitszustand der Betroffenen spielen eine Rolle. Etwa 25 bis 30 Prozent aller Epilepsie-Patienten haben trotz optimierter Behandlung weiterhin Anfälle.

Unterschiedliche Verfügbarkeit der Methoden

Die Neurostimulation gewinnt nicht nur in der Epilepsietherapie, sondern auch bei anderen neurologischen Erkrankungen zunehmend an Bedeutung. In der Behandlung der Epilepsie werden verschiedene intrakranielle und extrakranielle Neurostimulations-Techniken eingesetzt und erforscht. Während die Vagusnerv-Stimulation (VNS) mit weltweit mehr als 100.000 behandelten Patienten bereits weit verbreitet ist, wurde die Machbarkeit der therapeutische Trigeminusnerv-Stimulation (TNS) erst kürzlich nachgewiesen. Nichtinvasive Methoden wie die transkranielle Magnetstimulation (TMS), die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) oder die transkranielle Gleichstromstimulation (dDCS) sind in Epilepsie-Zentren noch nicht routinemäßig im Einsatz. Die tiefe Hirnstimulation (DBS), bei der Stimulationselektroden in intrazerebrale Zielgebiete wie den vorderen Thalamuskern implantiert werden, ist seit kurzem in der EU zugelassen.

VNS: Sichere und wirkungsvolle Behandlung

Die Vagusnerv-Stimulation (VNS) ist eine Option für Patienten mit medikamenten-refraktärer Epilepsie, die für einen neurochirurgischen Eingriff nicht in Frage kommen bzw. bei denen eine Operation nicht das gewünschte Resultat brachte. VNS wird mittlerweile in Epilepsie-Zentren weltweit routinemäßig angewendet. Ein implantiertes Gerät und eine Elektrode geben elektrische Impulse an die afferenten Fasern des linken Vagusnervs ab.

„Langzeitstudien zur VNS zeigen eine Ansprecharate zwischen 40 und 60 Prozent und langfristige Anfallsfreiheit bei fünf bis zehn Prozent der Patienten“, fasste Prof. Boon zusammen. „Die intraoperativen Komplikationen und die perioperative Morbidität sind gering. Untersuchungen zu den Wirkmechanismen der VNS zeigten eine entscheidenden Einfluss auf den Thalamus und jene kortikalen Bereiche, die für den epileptogenen Prozess wichtig sind. Derzeit wird in der EU eine VNS-basierte Methode untersucht, die auf eine iktale Tachykardie unmittelbar nach einem epileptischen Anfall reagiert. Sie scheint ein großes Potenzial zu haben, Anfälle zuverlässig zu erkennen und eine reaktive Stimulation auszulösen.“

Tiefe Hirnstimulation: Bis zu 60 Prozent Ansprecherrate

„Mehrere Epilepsie-Zentren weltweit führen derzeit Studien zur tiefe Hirnstimulation in unterschiedlichen intrazerebralen Strukturen durch. Die Wirksamkeit von DBS konnte in kleinen Pilotstudien an Patienten mit medikamenten-refraktärer Epilepsie nachgewiesen werden“, sagte Prof. Boon. „Die SANTE-Studie zur bilateralen DBS im vorderen Thalamuskern zeigte die Wirksamkeit und Sicherheit dieser Methode im Rahmen eines längere Follow-up von bis zu fünf Jahren, mit zunehmender Responder-Rate von 40 bis 60 Prozent. Intraoperative Komplikationen und postoperative Morbidität lagen im Rahmen der Erwartungen. Berichtet wurden langfristige Nebenwirkungen wie Depressionen und Gedächtnisstörungen, dieser Aspekt wird weitere Untersuchungen erfordern“.

Die Anwendung von DBS bei Patienten mit Temporallappen-Epilepsie mit bilateral implantierten Elektroden führte in der Langzeitbeobachtung ebenfalls zu einer signifikanten Abnahme der Anfallshäufigkeit und der EEG-Anomalien zwischen den Anfällen, ohne dass es zu klinisch wesentlichen Nebenwirkungen gekommen wäre. Prof. Boon: „Die Daten aus kleineren Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse, wobei wir aber noch Resultate aus Schlüsselstudien benötigen.“

Eine US-basierte Multi-Center-Studie zur responsiven Neurostimulation (NeuroPace) zeigte nicht nur die Machbarkeit und Sicherheit des Verfahrens, sondern auch eine signifikante Abnahme der Anfallshäufigkeit in der Studiengruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen, wie Prof. Boon berichtete: „Die Langzeitdaten lassen die Annahme zu, dass die responsive kortikale und tiefe Hirnstimulation einen eindeutigen Mehrwert haben. Die Stimulation der Weißen Substanz ist derzeit Gegenstand weiterer Untersuchungen.“

Vielversprechende Ergebnisse für minimal- oder nicht-invasive Techniken

Neuerdings werden auch verschiedene minimal- oder nicht-invasive Neurostimulations-Methoden wie die transdermale Vagusnerv-Stimulation (tVNS), die Trigeminusnerv-Stimulation (TNS), die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) oder die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) intensiv beforscht.
Prof. Boon: „Erste Ergebnisse für diese neuartigen Ansätze und Zugänge sind vielversprechend, allerdings liegen noch keine Daten aus randomisierten, kontrollierten Studien vor. Es muss auch noch untersucht werden, welche Pateintengruppen auf diese Verfahren ansprechen.“

Quellen: BrainFacts.org, Brain Disease in Europe, November 2013; Olesen et al.: The economic cost of brain disorders in Europe. European Journal of Neurology 2012, 19: 155-16; EAN Abstract Boon, Neurostimulation in epilepsy.

EAN Pressestelle
B&K – Bettschart&Kofler Kommunikationsberatung
Dr. Birgit Kofler
Tel.: +43 1 3194378; +49 172 7949286; +43 676 6368930
E-Mail: kofler@bkkommunikation.com