15. Europäischer Orthopädie-Kongress EFORT – 4.-6. Juni 2014, London
Knochenkrebszellen zielgerichtet angreifen, mit Quantenpunkten einzelne Moleküle sichtbar machen, mit Polymeren Gewebe züchten: Nanotechnologie hat das Potenzial, die Orthopädie zu revolutionieren. Doch wie sicher sie für Patienten/-innen ist, bleibt zu klären, betonten Experten beim EFORT Kongress in London.
London, 5. Juni 2014 – „In der Nanotechnologie steckt ein großartiges Potenzial für die Orthopädie. Die entscheidende Frage ist: Wird sie den Patienten/-innen auch langfristig nicht schaden? Rigorose Prüfverfahren sind unabdingbar“, sagte Prof. Nicola Baldini (Istituto Ortopedico Rizzoli und Universität Bologna) beim 15. EFORT Kongress in London. Organisiert wird der Kongress von der European Federation of National Associations of Orthopaedics and Traumatology (EFORT) gemeinsam mit der British Orthopaedic Association (BOA). Patientensicherheit ist das Hauptthema dieses wissenschaftlichen Großereignisses, zu dem mehr als 7.000 Teilnehmer/-innen aus aller Welt in der britischen Hauptstadt zusammentreffen. Eine von der European Orthopaedic Research Society (EORS) organisierte wissenschaftliche Sitzung beschäftigte sich mit den Potenzialen und Risiken der Nanotechnologie. Nanotechnologie in der Orthopädie ist keineswegs Zukunftsmusik: „Die Nanowissenschaften dringen in viele Schlüsselbereiche des Fachgebiets vor, auch in der klinischen Praxis. Zunehmend werden Therapien erforscht, bei denen einzelne Gene oder molekulare Signalwege manipuliert werden“, berichtete der Experte. Bereits im Einsatz sind beispielsweise rekombinante Technologien, mithilfe derer humanisierte Antikörper produziert werden, um den Knochenabbau zu reduzieren. Ein Beispiel, wie Bio- und Nanotechnologie zusammenspielen können, sei das Gebiet der Exosomenwissenschaft und -technologie. Exosome sind körpereigene, subzellulare Strukturen, die von Zellen freigesetzt werden und Proteine transportieren, etwa Wachstumsfaktoren. Sie sind einerseits Informationswerkzeuge, können aber auch Zielzellen aktivieren.
Tumorzellen zielgerichtet angreifen
Die meisten nanotechnologischen Innovationen stecken zwar noch in der Entwicklungsphase, aber es gibt viel versprechende Ansätze: Mit der Photoaktivierung von fluoreszierenden Molekülen, die mit subzellulären Nano-Motoren interagieren, dürfte eine Methode gefunden worden sein, um Knochenkrebs zu behandeln. „In diesem Bereich wird fieberhaft nach Möglichkeiten gesucht, um maßgeschneiderte Therapien je nach genetischem Profil anbieten zu können. Theoretisch wäre das bereits machbar, aber die Kosten sind derzeit noch exorbitant“, so Prof. Baldini. Um biologisch aktive Substanzen genau an der Stelle zu verabreichen, an der sie auch wirken sollen wurden Nanotransporter entwickelt, die Knochentumore ansteuern und zielgerichtet Tumorzellen mit zytotoxischen Medikamenten oder therapeutischen Molekülen angreifen sollen. „Das ist ein sehr vielversprechender Zugang, denn auf diese Weise könnte man gesundes Zellgewebe schonen“, sagte Prof. Baldini.
Nanoimaging lässt tief blicken
Die Annäherung zwischen Nanotechnologie und bildgebender Diagnostik wird in naher Zukunft völlig neue Möglichkeiten der molekularen Bildgebung eröffnen: Das Nanoimaging wird erlauben, einzelne Moleküle oder Zellen auch in einer komplexen biologischen Umgebung zu erkennen. Dazu werden beispielsweise fluoreszierende Nanokristalle wie Quantenpunkte eingesetzt. Das sind Nanopartikel, die ein spezielles Gewebe oder eine bestimmte Zelle ansteuern können, diese zum Fluoreszieren bringen und somit sichtbar machen. „Die Fachwelt setzt große Erwartungen in die Quantenpunkte, die besonders hilfreich bei der Bildgebung in lebenden Geweben sein könnten, bei denen sonst die Impulse verzerrt und Bilder unscharf werden“, berichtete Prof. Baldini.
Fester, leichter, infektionshemmend: Nanostrukturiertes Material
Auch nanostrukturiertes Material bietet zahlreiche Verbesserungsmöglichkeiten für die Orthopädie. Die Oberflächeneigenschaften von Implantaten etwa lassen sich so optimieren, dass sie Osteoblasten besser leiten und das Einwachsen in den Knochen begünstigen. Funktionalisierte Polymere, die die Knochenmatrix nachnahmen, könnten künftig Träger zum Züchten von Ersatzgewebe sein. Mithilfe von Nanotechnologie werden Materialien in Zukunft stärker und leichter: „Nanokohlenstoffröhrchen zum Beispiel haben die Steifigkeit eines Diamanten und sind hundertmal stärker als Stahl, obwohl sie nur ein Sechstel davon wiegen“, so Prof. Baldini. Nanostrukturierte Keramik kann Reibung und somit auch die Verschleißprobleme bei künstlichem Gelenkersatz reduzieren. Erfolgversprechende Neuerungen sind nanokristalline Silbermembrane für Wundverbände, mit denen postoperative Infektionen reduziert und Heilungsprozesse beschleunigt werden sollen. Auch zytokinhaltige Implantat-Nanobeschichtungen sollen Infektionen verhindern, indem sie Makrophagen aktivieren, die in der Immunabwehr eine entscheidende Rolle spielen.
Patientensicherheit: Studien erst am Anfang
„Bei aller Begeisterung für die neuen Möglichkeiten, gilt es allerdings zu bedenken, dass die Studien zur Überprüfung von Nanophasenmaterialien erst angelaufen sind“, unterstrich Prof. Baldini. Da Nanopartikel kleiner sind als die Poren vieler biologischer Gewebe, seien rigorose Sicherheitsüberprüfungen unerlässlich. Sie könnten sich zudem leicht von Prothesen lösen. „Die vermutlich größte mögliche Risikoquelle sind Nanomaterialien, die anorganische Metalle und Metalloxide enthalten. Nanopartikel sind hochgradig reaktiv und könnten bislang unbekannte chemische Reaktionen auslösen“, gab der Experte zu bedenken. Zudem hat sich gezeigt, dass der Metabolismus von Nanopartikeln auf verschiedene Organsysteme wirken kann, einschließlich Blut, Leber und Nieren, was möglicherweise für Entzündungen und oxidativen Stress sorgt. Nanopartikelabrieb hat ungewisse lokale Gewebeeffekte und wurde mit Lungen- und Gehirntoxizität in Verbindung gebracht. „Ungeachtet der großen Potenziale und der führenden Rolle Europas in der Weiterentwicklung dieses Zukunftsbereichs wird alles damit stehen und fallen, ob wir die möglichen Langzeitfolgen von nanotechnologischen Produkten einzuschätzen lernen. Und in einem so innovativen Gebiet ist ein interdisziplinärer Zugang entscheidend“, so Prof. Baldini.
Hintergrund EFORT
Die European Federation of National Associations of Orthopaedics and Traumatology (EFORT) ist die Dachorganisation nationaler orthopädischer Fachgesellschaften in Europa. EFORT wurde 1991 im italienischen Marentino gegründet. Heute gehören ihr 45 nationale Mitgliedsgesellschaften aus 42 Ländern und elf assoziierte wissenschaftliche Organisationen an.
EFORT ist eine Non-Profit Organisation. Das Ziel der Mitgliedsgesellschaften ist es, den Austausch von wissenschaftlichem Fachwissen und von Erfahrungen in der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen des muskuloskelettalen Systems zu fördern. EFORT organisiert einen jährlichen Kongress, Seminare, Kurse, Foren und Konferenzen in ganz Europa. Ferner werden Grundlagenforschung und klinische Forschung initiiert und unterstützt.
Quelle: EFORT Kongress Symposium Nanoscience and Nanotechnology in Orthopaedics, 5. Juni 2014
Info:
15th EFORT Congress 2014 – Medienkontakt: Dr. Birgit Kofler, B&K Kommunikationsberatung; E-Mail: kofler@bkkommunikation.com; Mobil: +43 676 6368930; Tel. Wien: +43 1 3194378 13; Tel. Berlin: +49 30 700159676