Das „Experiment Sparkurs“ als Antwort auf die Finanz- und
 Wirtschaftskrise sei gescheitert, kritisierten Experten/-innen beim European
 Health Forum Gastein. Rezession statt Wachstum und dramatische Auswirkungen auf
 die Gesundheit der Bevölkerung seien die Folgen – doch ideologische Motive seien
 stärker als die Datenlage. Gefordert wurden gezielte Wachstumsimpulse statt
 Sparbudgets und ein stärkeres Engagement von Gesundheitspolitiker/-innen und
 Gesundheitsexperten/-innen in der Debatte um Maßnahmen gegen die Krise.
Bad Hofgastein, 4. Oktober 2012 – „Die europäischen
 Politiker sollten lernen, dass die strikte Sparpolitik sowohl der Wirtschaft als
 auch der Gesundheit schadet“, erklärte Prof. Dr. Martin McKee von der London
 School of Hygiene and Tropical Medicine heute beim European Health Forum Gastein
 (EHFG). „Es gibt eine Alternative zu Sparprogrammen, aber ich fürchte, im Moment
 triumphiert die Ideologie über die wissenschaftliche Evidenz.“
Kein Geld für Gesundheit?
In vielen europäischen Staaten spiegelt sich der Sparkurs deutlich auch in
 den Gesundheitsbudgets wider. So zeigt der aktuelle Bericht OECD Health Data
 2012 , dass 2010, nach Jahren steigender Gesundheitsausgaben, in einer Reihe von
 europäischen Ländern massive Einschnitte erfolgten: Minus 7,6 Prozent in Irland,
 minus 7,3 Prozent in Estland, minus 6,5 Prozent in Griechenland. Andere Studien
 zeigen für Lettland eine Reduktion des Gesundheitsbudgets von 2008 bis 2010 um
 25 Prozent bzw. für die Tschechische Republik um 30 Prozent . „Die Troika
 verlangt von Irland sogar, dass die Gesundheitsausgaben weiter reduziert werden.
 Das ist ein sehr gefährliches Unterfangen“, so Prof. McKee. „Die europäischen
 Institutionen, allen voran die Kommission, haben die Verpflichtung, auch die
 Auswirkungen solcher Maßnahmen auf die Gesundheit der Menschen zu evaluieren.
 Diese menschlichen Kosten des Sparens sind bisher nicht ausreichend sichtbar
 worden.“´
Dramatischer Anstieg von Suiziden, mehr psychische
 Erkrankungen
Doch inzwischen verdichtet sich die Evidenz, welche unmittelbaren negativen
 Auswirkungen Krise und Sparprogramme auf den Gesundheitszustand der Menschen und
 die Gesundheitsversorgung haben. So bestätigt sich die Erfahrung, die mit
 vorangegangenen Krisen gemacht wurde, zum Beispiel in dramatischer Weise beim
 Thema Suizide. Die Zahl der Selbsttötungen stieg beispielsweise in Griechenland
 zwischen 2007 und 2009 um 17 Prozent an, nichtoffizielle Quellen dokumentieren
 von 2009 auf 2010 einen Anstieg um 25 Prozent. Das griechische
 Gesundheitsministerium berichtete in der ersten Jahreshälfte des Jahres 2011 von
 einem Anstieg um 40 Prozent gegenüber derselben Periode im Jahr 2010.
Ein vermutlicher Hintergrund dieser dramatischen Entwicklung ist die
 Tatsache, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Arbeitslosen- und Suizidrate
 besteht, wie  eine Studie  zeigt: Ein Anstieg der Arbeitslosenrate um ein
 Prozent geht mit einem Anstieg der Selbsttötungen um 0,79 Prozent einher, steigt
 die Arbeitslosenrate um mehr als drei Prozent an, steigt die Suizidrate sogar um
 4,45 Prozent. Ein typisches Beispiel dafür, meint Prof. McKee, wie Investitionen
 statt Einsparungen nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht positive Effekte
 entwickeln könnten: „Für je 100 US-Dollar, die pro Person für aktive
 Arbeitsmarktprogramme ausgegeben werden, reduzierten sich die Auswirkungen der
 Arbeitslosigkeit auf die Selbstmordrate um 0,38 Prozent. Leider werden aber
 gerade solche Arbeitsmarktmaßnahmen im Zug der Sparmaßnahmen in vielen Ländern
 eingeschränkt.“
Auch andere Indikatoren zeigen, wie wenig zuträglich die Wirtschaftskrise dem
 Gesundheitszustand der betroffenen Bevölkerungen ist: „In Spanien suchen
 inzwischen deutlich mehr Menschen wegen psychischer Probleme, vor allem
 Depressionen, einen Arzt oder eine Ärztin auf als vor der Krise“, berichtete
 Prof. McKee.
In Griechenland zeigen eine Reihe von Daten einen verschlechterten
 Gesundheitszustand der Bevölkerung auf: So stieg von 2009 auf 2010 die Zahl der
 Aufnahmen in öffentlichen Krankenhäusern um 24 Prozent an. Die Rate der
 HIV-Neuinfektionen stiegt von 2010 auf 2011 um 52 Prozent, mit eine Folge des
 20prozentigen Anstiegs bei der Zahl der heroinabhängigen Personen.
Gefahren für die Gesundheitsversorgung
Dieser Verschlechterung des Gesundheitszustands in Krisenzeiten stehe aber
 zugleich in vielen Ländern statt vermehrter Betreuung Betroffener eine
 Verschlechterung der Gesundheitsversorgung gegenüber, betonte Prof. McKee: „So
 hat Spanien zum Beispiel per Dekret die Anspruchsberechtigung für öffentliche
 Gesundheitsleistungen von der Voraussetzung eines Wohnsitzes, auf die
 Voraussetzung eines Arbeitsverhältnisses umgestellt. Damit riskieren Jugendliche
 die noch nie einen Arbeitsplatz hatten – was bei fast der Hälfte der
 Jugendlichen der Fall ist – und illegale Migranten, dass sie faktisch vom
 Gesundheitswesen ausgeschlossen werden. Diese Entwicklung ist sehr
 besorgniserregend.“
In Portugal wurden die Selbstbeteiligungen, die Patienten/-innen für den
 Besuch einer Notfallambulanz bezahlen müssen, auf 20 Euro verdoppelt. Erste
 Berichte deuten darauf hin, dass aufgrund dieser Maßnahmen Anfang 2012 die
 Todesfälle anstiegen. In Italien wurde  nicht nur eine weitere Reduktion der
 Spitalsbetten von 4,5 auf 4 pro 1.000 Einwohner beschlossen, es wurden auch eine
 Kostenbeteiligungen für Besuch von Facharztordinationen oder Notaufnahmen
 eingeführt.
Zum Teil dramatische Auswirkungen gibt es auch bei der Versorgung mit
 lebensnotwendigen Arzneimitteln. So war einer Anfrage im EU-Parlament zufolge
 in Rumänien 2011 ein dramatischer Rückgang beim Einsatz von Zytostatika zu
 verzeichnen, rund 10.000 Patienten/-innen warten auf eine möglicherweise
 lebensrettende Second-Line-Chemotherapie.
„Sicher waren manche dieser Ausgabenreduktionen im Gesundheitswesen durchaus
 sinnvoll im Sinne eine Beseitigung von ineffizienten Strukturen. Doch in vielen
 Fällen, wie bei Kostenbeteiligungen, bei denen nicht zwischen notwendigen und
 unnötigen medizinischen Leistungen unterschieden wird, gibt es keinerlei
 Nachweis für einen Nutzen“, betonte Prof. McKee. „Die gesamten Folgen der
 vielfältigen Einschnitte im Gesundheitssystem sind noch kaum absehbar. Sicher
 ist, dass sie vor allem Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck,
 Diabetes oder Krebs betreffen werden. Ein Zusammenbruch der Versorgung mit
 lebensnotwendigen Medikamenten wäre fatal“, so der Experte. „Das Schweigen der
 Gesundheitspolitik zu den menschlichen Folgen der Sparmaßnahmen ist
 erschütternd.“
Regulierung und Wachstumsimpulse statt Kranksparen
Dass das sprichwörtliche „Kranksparen“ keineswegs die einzige Antwort auf die
 Krise sei, zeigen aktuelle Beispiele: „Island steht nach dem klaren Referendum
 gegen den Sparkurs wirtschaftlich besser da als die meisten Staaten, die sich
 für einen Sparkurs entschieden haben“, so Prof. McKee „Im Gegensatz zu Europa
 wählten die USA den Weg, zur Abfederung der Krisenfolgen wirtschaftliche Stimuli
 zu setzen und haben sich heute von der Krise besser erholt als jene europäischen
 Länder, die auf einen harten Sparkurs setzen, wie Großbritannien, Irland,
 Griechenland, Portugal oder Spanien.“
Um die negativen Folgen der Krise für Gesundheits- und Sozialsysteme zu
 verringern und Impulse für die ökonomische Erholung zu setzen, schlägt Prof.
 McKee eine drei-Punkte-Strategie für Europa vor. Zum einen müsste über
 Regulationsmaßnahmen eine gleichmäßige Risikoverteilung im europäischen
 Bankenwesen erreicht werden, damit einzelne Länder nicht in unüberwindbare
 Schwierigkeiten geraten, weil sie das Risiko für Banken, die in ihrem Land
 registriert sind, auffangen müssen. Zum anderen fordert er eine gezielte
 Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen, wesentlichen Trägern einer
 wirtschaftlichen Stabilisierung. Und schließlich müsse, so Prof. McKee, mehr
 Geld in die Gesundheitssysteme fließen: „Das ist nicht nur unbedingt notwendig
 im Sinne einer besseren Gesundheitsversorgung, sondern Investitionen in den
 Wachstumsmarkt Gesundheit würden auch Wachstumsimpulse setzen.“
Das EHFG ist der wichtigste gesundheitspolitische Kongress der Europäischen
 Union, mehr als 600 Entscheidungsträger aus 45 Ländern diskutieren vom 3. bis 6.
 Oktober 2012 bereits zum 15. Mal zentrale Zukunftsthemen der europäischen
 Gesundheitssysteme.
Fotos zum diesjährigen European Health Forum Gastein finden Sie unter http://www.ehfg.org/940.html.
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