Zwischen Unsicherheit und Handlungsdruck: Lehrerverhalten bei schulischer Gewalt

Über Gewalt in der Schule wird gerne öffentlich debattiert, in regelmäßigen Abständen flammt die Diskussion um physische und psychische Gewalt unter Schülern in den Medien auf. Oft werden dabei gewalttätige Übergriffe im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof mit einer Vehemenz und Dramatik beschrieben, die Schulen als Orte der Anarchie erscheinen lassen. Während die Mehrheit der Journalisten die Verrohung der Schüler anprangert und den Lehrern Ohnmacht vorwirft, bleiben theoretische Perspektiven in der Berichterstattung meist unbeachtet.
An eben diesem Punkt setzt die Dissertation des Erziehungswissenschaftlers Jakob Tetens an. Indem er die Rolle des Lehrers in den Blick nimmt und diese in Bezug auf das Phänomen der „Ungewissheit“ untersucht, widmet er sich einem bisher weitgehend vernachlässigten Forschungsthema.
Unter dem Titel „Ungewissheit und Lehrerhandeln – Eine theoretische und empirische Untersuchung am Beispiel des Umgangs mit Gewalt in der Schule“ liefert Tetens eine fundierte Analyse der Positionierung von Lehrpersonen im Umgang mit schulischer Gewalt.
Wie der Autor überzeugend darlegt, gehören pädagogisches Handeln und Momente der Ungewissheit und Unsicherheit untrennbar zusammen. Gerade am Beispiel von Gewalt in der Schule wird deutlich, dass der Lehrer einerseits handeln muss, andererseits jedoch oft nicht klar ist, welche Handlungsoption die sinnvollste ist.
Die Untersuchung geht von der Leitfrage aus, wie Lehrkräfte mit dieser Ungewissheit umgehen können. Klar und übersichtlich strukturiert setzt die Argumentation bei einer theoretischen Betrachtung an. Im ersten Schritt werden mögliche Erscheinungsformen und Bedeutungen von Ungewissheit im Rahmen des Lehrerhandelns dargelegt. Daran schließt sich ein umfassender Überblick zum Thema Gewalt und ihrem spezifischen Auftreten im Schulkontext an, hierbei werden auch verschiedene Ansätze der Gewaltprävention und Gewaltintervention diskutiert. Auf der Basis qualitativer Interviews wird schließlich gezeigt, auf welchen Ebenen Lehrkräfte Ungewissheit thematisieren und wie sie mit dieser umgehen. Konsequent behält Tetens während der gesamten Darstellung die gesellschaftliche Brisanz der Thematik und ihre handlungspraktische Relevanz im pädagogischen Kontext im Blick.
Zudem befasst er sich mit verschiedenen Forschungsperspektiven und bezieht neben pädagogischen Standpunkten auch psychologische sowie soziologische Theorien in seine Überlegungen ein. Dem Leser wird durch dieses Vorgehen ein umfassendes Bild der Thematik vermittelt, sodass die Lektüre auch für den interdisziplinären Austausch äußerst gewinnbringend erscheint.
Als Leiter der Beratungsstelle für schulische Gewaltprävention des Wendepunkt e.V. sowie durch seine Tätigkeit als freiberuflicher Dozent und Berater gelingt es Tetens die praxisnahe mit der akademischen Perspektive produktiv zu verbinden. Gerade diese Gradwanderung ist es, die seine Dissertation auszeichnet und die öffentliche Debatte nicht nur wissenschaftlich unterfüttert, sondern auch um Lösungsmöglichkeiten bereichert.